Schedule

Melilla

Unverblümte Zweiklassen-Solidarität einmal mehr bestätigt

Schedule

|

Uhr

|

Seit Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine dürfen wir alle sehen, wie unkompliziert Willkommenskultur gehen kann. In einem Beitrag, den ich im Mai dazu verfasst habe, ging ich darauf ein. Fazit darin war: Den Ukrainer*innen ist alles – von der unkomplizierten Einreise in die EU bis hin zur Realisierung von so viel Normalität wie möglich – unbedingt zu gönnen, keine Frage. Ebenfalls zum Fazit gehörte allerdings auch, dass wir in dem Zusammenhang leider oft von einer Zweiklassen Solidarität sprechen müssen.

Letztere hat nicht zuletzt mit nach wie vor verbreiteten Stereotypen zu tun, die auf koloniale Zeiten zurückgehen. Eine Ungleichbehandlung etwa von negativ von Rassismus betroffenen Drittstaatenangehörigen aus der Ukraine beginnt oft schon in der Ukraine selbst, indem sie von den dortigen Sicherheitskräften daran gehindert werden, das Land in Richtung EU zu verlassen. Weiter geht es in den EU-Grenzstaaten wie vor allem Polen, in denen sich rassifizierte Geflüchtete im Gegensatz zu den Ukrainer*innen oft in Auffanglagern wiederfinden.

Berichte von Menschenrechtsverletzungen auf europäischem Boden häufen sich. Und diejenigen unter ihnen, die es in die reicheren EU-Staaten wie Deutschland schaffen, werden Zeug*innen einer Ungleichbehandlung, die einerseits „spontan“ erfolgt, andererseits aber auch zunehmend rechtlich fixiert wird. Immer wieder haben die unzähligen Menschen bei uns, die diese Zweiklassen-Solidarität klar ansprechen und sich für alle Geflüchteten einsetzen, mit Relativierungen zu kämpfen à la „Stimmt doch gar nicht. 2015 haben wir genauso unkompliziert Menschen geholfen“ oder „Das kann man nicht vergleichen – die Ukraine ist halt viel näher als Syrien, Afghanistan oder Eritrea.“ Letzteres entkräfteten schon die Bilder der Pushbacks an der Grenze zwischen Belarus und Polen im Spätjahr 2021. Pseudoargumente auf dem Prüfstand. Aber wie zur grausamen Widerlegungen dieses Pseudoarguments der geografischen Nähe müssen wir die letzten Tage die Bilder aus dem spanisch-marokkanischen Grenzgebiet rund um das spanische Territorium Melilla ertragen, wo Geflüchtete beim Versuch über Grenzzäune in die EU zu gelangen, der Gewalt der marokkanischen Sicherheitskräfte ausgesetzt waren bzw. noch immer sind.

Je nach Quelle starben dabei bisher fast 40 Menschen. Die „Türsteher“ Europas haben im traurigen Sinne des Wortes ganze Arbeit geleistet. Im Gegenzug dafür gibt es von der EU Überwachungs- und Militärtechnik, Geld oder aber auch gelockerte Visa-Bestimmungen für die eigenen Bürger*innen. Aber: Auch auf spanischer Seite gehen die Sicherheitskräfte nicht gerade zimperlich mit Geflüchteten  2um. Entsprechende Bilder von Pushbacks aus Melilla und dem anderen spanischen Territorium auf afrikanischem Boden – Ceuta – gingen immer wieder durch die Medien. Die aktuellen hohen Verluste in Melilla auf skrupellose Schlepper zu schieben, ist ein unglaubwürdiger Versuch seitens der spanischen Regierung bzw. der EU, sich aus der Verantwortung zu ziehen. „Verantwortung? Das sind doch alles ‚Wirtschaftflüchtlinge‘, die ohnehin keine Bleibeperspektive haben!“ könnten unwissende oder kalkulierende Stimmen in der EU nun einwenden. Weder Krieg noch Verfolgung zwinge sie, ihre Herkunftsländer zu verlassen. Diese Menschen seien gefragt: Warum kann Europa schon auf afrikanischem Boden – zur Not auch ohne afrikanische Handlanger – seine Außengrenzen verteidigen? Weil – noch vor Kolumbus – mit der Einverleibung der beiden erwähnten Territorien (damals durch die Portugiesen) ein Prozess begann, der maßgeblich für unsere heutige globale Kräftekonstellation und Perspektivenverteilung verantwortlich ist. Die kolonialen Umverteilungsprozesse sind die Quelle des Problems, die Schlepper – von denen einige tatsächlich skrupellos sind – und andere Pofiteur*innen im Globalen Süden „nur“ Teil davon. Wir müssten unsere Grenzen gar nicht mit immer höheren Zäunen und mehr Personal dies- und jenseits davon schützen, wenn wir ehrlich in eine Perspektivenangleichung investieren würden. Denn Fluchtursachen bekämpfen heißt Perspektiven schaffen. Kriege gehen in der Regel irgendwann vorbei – egal wo. Dauertreiber von Flucht(Migration) sind Strukturen, die Perspektivlosigkeit zementieren – und die übrigens auch immer wieder Kriege, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen begünstigen.

Können wir uns nicht mehr Menschlichkeit leisten?

Warum agiert die EU (bzw. weitere Industriestaaten) so halbherzig? Haben wir Angst oder wissen sogar womöglich, dass unsere immer wieder erwähnte „Größe“ bedroht wäre, wenn wir tatsächlich in eine Perspektivenangleichung investieren würden? Sind die aktuellen Opfer in Melilla also sozusagen als Kollateralschaden zu betrachten, der notwendig ist, weil wir uns eine Perspektivenangleichung ökonomisch nicht „leisten“ können? Diese Fragen und die damit verbundenen historischen Zusammenhänge können wir immer weniger ignorieren. In einer Welt im Wandel müssen wir die Lücke zwischen universell propagierten Werten und ihrer selektiven Anwendung endlich schließen – wollen wir einem Glaubwürdigkeitsschwund begegnen, der schon längst eingesetzt hat. Glücklicherweise nehmen auch viele Menschen in allen Industriestaaten die oftmals zu bloßen Worthülsen verkommenen Werte, mit denen sie aufwuchsen, ernst. Sie handeln, anstatt nur zu predigen. Den erwähnten Glaubwürdigkeitsschwund können sie allein aber nicht ausbügeln. Eine kluge Politik erkennt das. Sie definiert oben erwähnte „Größe“ neu. Dabei würde reines ökonomisches Wachstum ab-, das Ernstnehmen der proklamierten Moralvorstellungen aufgewertet werden. Ich bin mir sicher, dass wir uns das leisten können – wenn wir wollen. Nicht zum Nulltarif. Aber es wäre es wert.

(27. Juni 2022 | Bild: Palasie)

Ihr seid auch engagiert, wollt Euch vernetzen oder seid auf der Suche nach Möglichkeiten des Engagements?

Dann kontaktiert unsere Kollegin Teresa Piotrowski: teresa.piotrowski@eine-welt-netz-nrw.de

Ähnliche Beiträge